Ein Integrations-Praktiker ohne Schnörkel
Johannes Haarmann nehmen viele vor allem als Motor und Vorsitzenden des Vereins „Miteinander in Olpe“ wahr. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2008 war er ebenfalls an exponierter Stelle tätig, u.a. lange als Rektor der Gemeinschaftsgrundschule Hakemicke. „Wenn irgendwo was anzupacken ist, dann bin ich schon mit dabei“, sagt Haarmann über sich selbst. Es scheint ein wenig, als blitze bei diesem Satz besonders deutlich die Färbung der Gegend durch, in der er am 1. Februar 1943 zur Welt kommt: in der Großstadt Essen. Der Sohn eines Polsterers und einer Hausfrau verlebt eine von Krieg und dessen Wunden, eine von Armut geprägte Kindheit und Jugend. Man sagt den Menschen aus dem Ruhrpott nach, geradeaus zu sein, und das ist exakt der Eindruck, den Johannes Haarmann hinterlässt in diesem Gespräch über Chancen, die Verpflichtung, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, die Herausforderungen der Integration und damit verbundene Ärgernisse, die ihn – Zitat – „manchmal wild“ machen.
Zwei Zimmer, Plumpsklo übern Hof
Sechs Familien leben in dem Haus, in dem der kleine Johannes mit drei Schwestern aufwächst, 20 Kinder laufen hier tagein, tagaus treppauf und treppab. Den Haarmanns stehen mit sechs Personen zwei Zimmer zu, wer zum Plumpsklo will, flitzt über den Hof.
Die Kinder träumen sich mit dem Kursbuch in der Hand in die Ferne, an richtige Reisen ist nicht zu denken. Bis heute ist Johannes Haarmann ein großer Freund der Züge, über 40 Jahre Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Eisenbahngeschichte.
Der Vater erkrankt früh. Zwar bewahren ihn seine offenen Beine vor dem Kriegseinsatz, schuften in Krupps Rüstungsfabriken muss er dennoch, um die Familie durchzubringen. Heute leben zwei von Haarmanns Schwestern nicht mehr, die eine darf gerade einmal
16 Jahre jung werden. „Das sind einschneidende Erlebnisse“, sagt der 73-Jährige, mehr Worte braucht es dafür auch nicht. Nach dem Krieg findet der Vater („Er nahm das Leben, wie es war“) lange keine Arbeit, „das kann man sich vorstellen, Polstermöbel waren nicht das erste, was die Leute brauchten“. Mit 50 wird Haarmann Senior Frührentner, mit 70 verstirbt er. Johannes holt seine Mutter später nach Olpe, sie wird 80 Jahre alt. Da ist er längst Lehrer. Dass er das einmal werden würde, hätte wohl niemand für möglich gehalten. Nicht etwa aus mangelnder Intelligenz oder wegen fehlendem Fleiß, sondern einfach deshalb, weil der Besuch des Gymnasiums Geld kostete und daher den Bessergestellten vorbehalten war.
“Arbeiterkinder werden zu Arbeitern”
Chance aufs Gymnasium dank der Krupp-Stiftung
Arbeiterkinder werden zu Arbeitern – so war es vorgesehen. Es ist die Stiftung der Familie Krupp, die begabten, aber armen Jungen wie Johannes Haarmann andere Dimensionen eröffnet. Deshalb landet der Schüler in einer „Zubringerklasse“, die ihm zunächst die Mittlere Reife und dann den Besuch des Gymnasiums ermöglicht. In vier Jahren erarbeitet er sich den Schulstoff, für den andere sechs Jahre benötigen, Latein und Englisch inbegriffen. Die Stiftung übernimmt die Hälfte des Schulgeldes, sein Vater den Rest, „100 Mark oder irgendwas im Jahr“. Vor der Aufnahmeprüfung sagt er zu seinem Sohn: „Wenn du die nicht bestehst, bin ich dir nicht böse“.
Aber Johannes besteht.
Nur vier von 48 Schülern aus der ursprünglichen Stiftungs-Klasse werden später das Abitur ablegen, er ist einer davon.
Das Abitur in der Tasche – und jetzt?
Doch in die Freude mischt sich die große Frage: Was nun damit anfangen? Die Lehrstellen, die es gibt, sind nicht für Abiturienten vorgesehen. Dass aus Johannes Haarmann letztlich ein Lehrer werden soll, ist also auch dem Umstand zu verdanken, dass sich nichts anderes anbot, von der pädagogischen Hochschule in Essen einmal abgesehen. „Lehrer waren gefragt“, erinnert sich Haarmann. „Für meine Verhältnisse war Volksschullehrer ein enormer Aufstieg. Als ich mein erstes Gehalt bekam, sagte mein Vater ,Junge, so viel Geld habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht in einem Monat verdient’ – und Lehrer bekamen damals wenig Geld!“ Und zu Hause wohnen bleiben konnte er so zunächst auch.
Trotzdem reißt sich der junge Mann zunächst nicht um diesen Beruf: „Ich war in Deutsch keine besondere Koryphäe“ – aber müssen Lehrer das nicht können, gut reden, Aufsätze schreiben und alles das? Johannes Haarmann ist damals schon in der Jugendarbeit aktiv, kann mit Kindern umgehen. Es ist am Ende eine Frage der Überredungskunst, dass er sich an der pädagogischen Hochschule einschreibt und danach das Revier verlässt, denn Junglehrer suchen sich ihre Einsatzorte nicht aus, sie werden entsendet.
Ein Junglehrer in Drolshagen
„Die Konsequenz war, dass ich in den Kreis Olpe kam. Ich fing dann also munter in Drolshagen an, als Volksschullehrer“, 1965 war das. Drei Jahre später werden die Volksschulen in Grund- und Hauptschulen unterteilt, und Johannes Haarmann bleibt 25 Jahre lang Lehrer an der Hauptschule, „ungefragt“, wie er sagt, damals habe man das einfach so hingenommen. In Drolshagen lernt er seine spätere zweite Ehefrau Ulrike kennen, die dort als Erzieherin mit Zusatzausbildung zunächst im Schulkindergarten, später noch für drei Jahre an der Schule selbst arbeitet. 1992 heiraten die beiden. Es gebe „unterschiedliche“, keine gemeinsamen Nachkommen, sagen sie und lachen, den Begriff „Patchwork“ hingegen mögen sie nicht so.
Aus erster Ehe bringt Johannes Haarmann vier Kinder mit und freut sich inzwischen über acht Enkelkinder, Ulrike Haarmann hat eine Tochter und ebenfalls ein Enkelchen. Schließlich bietet man dem Hauptschullehrer die Leitung der Grundschule Hakemicke an, die in mehr als einer Hinsicht richtungsweisend für den Pädagogen werden soll. „Damit nähern wir uns eigentlich unserem Thema, denn die Grundschule war eine Gemeinschaftsgrundschule“, sagt Haarmann und beugt sich vor. Ab hier wird das Gespräch sehr lebhaft, weg vom Privaten, hin zu Dingen, die ihn offensichtlich sehr umtreiben.
„Ich habe das als Aufgabe betrachtet und mich reingekniet“
Alle Grundschulen im Umkreis sind seinerzeit Bekenntnis-Grundschulen, nur die Hakemicke-Grundschule nicht. Sie wird auch von nicht-christlichen Kindern besucht, außerdem von Mädchen und Jungen aus den Schlichtwohnungen in Lütringhausen. In Zahlen ein Migrantenanteil im zweistelligen Prozent-Bereich, im Alltag ein Mix aus Mentalitäten und Kulturen. Eine Herausforderung auch für einen gestandenen Lehrer: „Ich habe das als Aufgabe betrachtet und mich da reingekniet. Ich muss sagen, es ist ganz gut gelungen.“
Auf diese Weise kommt Haarmann mit vielen türkischen Familien in Kontakt, die in Olpe bleiben, und mit vielen Flüchtlingen, die Olpe wieder verlassen. Bei abendlichen türkischen Frauen-Cafés im Schulgebäude ist er der einzige Mann. Die Damen sind unter sich, weil ihre Ehemänner es so wollen, sie kochen Tee und reden über Gott und die Welt, aber auch darüber, wie sie lernen können, mit dem Computer umzugehen, denn hier in der Schule dürfen sie das, zu Hause nicht.
Gesucht: ein Integrations-Praktiker
Als 1999 das Nachhaltigkeitsprogramm Lokale Agenda 21 nach Olpe kommt, fühlt auch Johannes Haarmann sich angesprochen: „Mein Ziel war es, irgendwas zu machen, das nichts mit Schule zu tun hat.“ Kurze Pause. „Ist mir nicht gelungen.“
Als jemand gesucht wird, der sich mit Integration auskennt, ist
der Weg zu dem Rektor, der 1997/98 einen Ausländeranteil von
38 Prozent an seiner Schule hatte, nicht weit. Nachdem diverse Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund, darunter das Attentat von Mölln, die Republik erschüttern, geht in Olpe die Angst vor Vergleichbarem um. Die Frage, was man tun kann, endet zunächst in der Gründung eines Arbeitskreises. „Ganz ehrlich hatte ich das Gefühl, da sitzen zu viele Professionelle drin“, erinnert sich Johannes Haarmann. „Wenn die fünf Uhr hatten, hatten die Feierabend, und manche wohnten gar nicht in Olpe.“
Vor allem aber frustriert ihn, dass man nur über die Migranten spricht: „Ich habe immer gesagt, wir müssen mit denen reden!“ Aus einer Befragung der Bevölkerung, an der zur Hälfte auch Olper mit Migrationshintergrund teilnehmen, bildet sich 2005 schließlich der Runde Tisch Integration. „Da waren dann auch die Betroffenen beteiligt“, so Haarmann. Seine Überzeugung: „Der Türke muss für die Einheimischen nicht nur der Türke sein, der muss einen Namen haben, ihn aus irgendeiner Beziehung her kennen – und umgekehrt.“
Miteinander im Verein „Miteinander“
Das Zauberwort lautet Begegnung: gemeinsam wandern, gemeinsame Ausflüge, Infoveranstaltungen und auch mal ein Kinderfest. Die Resonanz ist gut. Als die Stadt schließlich die Finanzierung einstellt, weiß Haarmann, wie man anderswo clever die Geldhähne öffnet: Aus lehrreichen, aber losen NRW-Ausflügen wird so zum Beispiel ein Projekt mit dem Oberthema „Wir erfahren unsere Heimat“, zu 80 Prozent förderwürdig, und aus dem ehemals Runden Tisch wird 2008 der Verein „Miteinander in Olpe“. Aus zunächst 28 Mitgliedern sind inzwischen 135 geworden, „mit einem leichten Überhang von Deutschen“, insgesamt, so Haarmann, seien inzwischen 15 bis 18 Nationen vertreten – das Spiegelbild eines immer bunter werdenden Olpes.
„Wir werden die Masse nicht packen“
Im Gegensatz zu den 60er-Jahren, wo die Zuwanderer („Gastarbeiter“) Jobs und meist auch schnell eine Wohnung hatten, sieht Johannes Haarmann die Herausforderung heute darin, Flüchtlinge in Arbeit und Brot zu bekommen. „Die jetzt kommen, davon wird ein großer Teil nicht bleiben, davon bin ich überzeugt, die können auch nicht bleiben. Und die, die bleiben können, die haben es nicht leicht.“ Sein Verein nimmt sich in allererster Linie derjenigen an, die ein Bleiberecht haben, „unsere Flüchtlinge“, nennt Haarmann sie, „das ist der Teil, bei dem man Integration betreiben könnte“. Für alle anderen sei zum Beispiel die Caritas zuständig, bei der sich auch seine Frau engagiert.
Seine Ansicht ist unsentimental, manche würden sie vielleicht sogar hart nennen. Für Johannes Haarmann ist es eine reine Feststellung: „Wir werden die Masse nicht packen, das sind viel zu viele, nach meiner Meinung, die kann man nicht so schnell integrieren.“
„Nicht mal ein Mini-Job ist drin“
Dabei macht es einen Unterschied, ob jemand eine solche Äußerung vom Sofa herunter tut, oder ob jemand wie Haarmann aus der Praxis spricht. Um Geflüchtete bei ihren zahlreichen Behördengängen begleiten und qualifiziert betreuen zu können, machte er selbst eine Art Crashkurs beim Jobcenter und weiß um die Herausforderungen der Arbeitssuche gerade im ländlichen Raum, wo es mitunter schon an schlechten Busverbindungen scheitert. „Die Probleme, die da auftauchen, da macht sich der normale Sterbliche kein Bild von!“
Mit erhobener Stimme berichtet er von einem jungen Mann aus Eritrea mit schon guten Deutschkenntnissen, der gerade seinen Hauptschulabschluss macht. Wie schwierig es sei, ihn in Arbeit zu vermitteln, „nicht mal ein Mini-Job“ sei drin, einen Führerschein habe er nicht, wie denn auch. „Dann suchen Sie mal eine Wohnung. Selbst in dem sehr aufgeschlossenen Olpe ist es manchmal schwierig, einen Farbigen in eine Wohnung zu bringen!“
Strom anmelden, Gänge zum Jobcenter, die Befreiung von der Rundfunkgebühr – für Menschen wie seine Schützlinge böhmische Dörfer. In Deutschland werde ja selbst von jemandem, der zwei Jahre lang in einem Container gewohnt habe, eine Schufa-Auskunft verlangt. Johannes Haarmann gerät weiter in Rage: „Wie soll der denn Schulden machen? Da könnte ich manchmal wild werden!“
Paten als Alltags-Lotsen
Im betreffenden Fall war die zugesagte Genossenschaftswohnung schließlich weg, weil am Briefkasten neben zehn anderen Namen ausgerechnet der des Interessenten nicht stand und dement-sprechend die Post von der Schufa nicht zugestellt werden konnte. Johannes Haarmann begreift noch immer die Welt nicht mehr. „So eine Akte habe ich über die!“, sagt er, Daumen und Zeigefinger spreizend. Er kann von einigen solcher Fälle berichten und von der großen Überforderung zugewanderter Menschen, die unsere Sprache und erst recht das Amtsdeutsch nicht verstehen. „Banale Probleme, da sind viele von denen dann hilflos!“ Eine Hilflosigkeit, die häufig auf Gegenseitigkeit beruht. Eine große Unterstützung könnten aus Sicht des Ehepaars Haarmann daher Paten sein: „Wir müssten viel mehr Leute haben, die einzeln, eins zu eins, solche Leute begleiten!“
Er sei noch immer fast überall auf freundliche Mitarbeiter gestoßen, die froh über seine Anwesenheit gewesen wären.
„Ich kritisiere das Jobcenter“
Mit deutlichen Worten hält er nicht hinterm Berg. „Ich kritisiere das Jobcenter und den Integration Point. Die können beraten und beraten, aber es kommt nichts dabei rum!“ Die mit den Geflüchteten getroffenen Vereinbarungen würden nicht überprüft, genauso wenig, ob sie wirklich Deutsch lernten. Es gebe genügend Kurse, dafür sei auch Geld da. Er sehe aber „eine ganze Reihe“ von Flüchtlingen, die diese Kurse nicht wahrnähmen. „Wir müssten die teilweise auch dazu zwingen!“
In Olpe „auf kurzen Wegen viel bewegen“
Anders als seine Frau, die Olper Wurzeln hat, musste aus Johannes Haarmann im Laufe der Jahre erst ein Olper werden. Schwer gefallen ist ihm die Umstellung nicht. „Ich bin heimisch geworden, in dem ich selbst aktiv war.“ Der junge Mann verlegte seine Aktivitäten einfach in die neue Heimat. Der frühere Messdiener engagiert sich heute in der Pfarrgemeinde und bei der Caritas, seit Jahren ist er Vorsitzender im Kirchenchor („Singen macht gesund!“) und hat sich selbst das Orgelspielen beigebracht. Zwei seiner Söhne sind Profi-Musiker – wenn die zu Besuch kämen, sei der Vater aber nur noch ein ganz kleines Licht, lacht Haarmann. Das ehemalige Essener Arbeiterkind hat seine Wurzeln nicht vergessen und die glücklichen Umstände, die die Weichen für seine Zukunft neu stellten.
„Mein Bestreben war immer:
Ich muss der Gesellschaft bestimmte Dinge zurückgeben,
die ich von ihr bekommen habe.“
Anpacken also, wenn irgendwo etwas anzupacken ist. Die Stadt macht es ihm leicht: „Was ich an Olpe schätze: Es ist nicht zu klein und nicht zu groß. Man kommt an entscheidende Leute auf kurzem Wege ran. Man kann auf kurzen Wegen viel erreichen und bewegen. Das macht für mich Heimat aus.“
„Das sind doch meine Kinder“, sagt er.
Es klingelt, und Ulrike Haarmann geleitet zwei junge Leute zur Tür herein, die höflich grüßen und Platz nehmen. Bereket aus Eritrea ist seit zweieinhalb Jahren in Olpe, seine Schwester Fortuna seit vergangenem September. Ein jüngerer Bruder, erzählt der junge Mann in gutem Deutsch, lebe in Dänemark. Kürzlich kam eine weitere Schwester in Freudenberg an. Für diese beiden ist Olpe noch lange nicht Heimat. Vielleicht war der Besuch am Tisch des Jubelkönigs ein weiterer kleiner Schritt, Guido Schneider hatte sie explizit dazu eingeladen.
Gleich wird Johannes Haarmann die Geschwister nach Freudenberg fahren, damit sie ihre Schwester in die Arme schließen können.
Text: Nicole Klappert
Fotos: letztes Foto – Nicole Klappert, Fotos im Text – privat
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